12.12.2007

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taz

* Türkische Mütter schweigen zum Sex
Von Pascal Beucker 

Geschlechtsverkehr, Verhütung, Regelblutung: Nur 16 Prozent der türkischstämmigen Mädchen werden von der Mutter aufgeklärt. Eine Studie ergibt: Die Unwissenheit über Sexualität unter Einwanderern ist groß, und sie lassen sich kaum beraten.

Mit zwölf Jahren verschlug es Nursen Aktas aus der Osttürkei in die Bundesrepublik. In eine Welt, die so anders war als diejenige, die ihre Eltern geprägt und in der sie ihre Kindheit verbracht hatte. Mit der Mutter über Liebe und Sexualität zu sprechen, das war undenkbar. Nicht mal über das Auftreten der Menstruation habe sie mit ihr reden können. "Erschreckend ist, dass sich bis heute für die meisten Mädchen aus türkischstämmigen Familien nichts geändert hat", sagt die mittlerweile 47-jährige Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin.

Seit fast 20 Jahren arbeitet Aktas bei Pro Familia in Berlin. Ihre Aufklärungsarbeit versteht sie als einen "emanzipatorischen Ansatz, denn Wissen ist die Grundlage für selbstbestimmtes Handeln". Sie hilft dabei, eine Lücke zu füllen: Während 70 Prozent der deutschen Mädchen ihre Mütter als erste Ansprechperson wählen, beziehen laut einer Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nur 16 Prozent der türkischen Mädchen ihr Wissen über Liebe und Sexualität von ihren Müttern. Dabei tut Aufklärung not, wie Pro Familia und das Zentrum für Türkeistudien am Dienstag in Essen anhand von Zahlen belegten. Danach rangiert bei den Verhütungsmethoden türkischer Paare der vor dem Höhepunkt abgebrochene Geschlechtsverkehr - bekanntlich keine wirksame Verhütungsmethode - mit 38 Prozent auf Rang eins. Mit deutlichem Abstand folgen Pille mit 28, Kondom mit 21 und Spirale mit 18 Prozent.

"Es gibt nach wie vor gravierende Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Menschen im Umgang mit Sexuellem", sagt Aktas. So falle bei ihrer sexualpädagogischen Arbeit mit Schulklassen immer wieder auf, dass türkische Mädchen im Vergleich zu deutschen viel weniger über weibliche und männliche Anatomie und Sexualität wissen. "Die Unwissenheit ist riesengroß", sagt Aktas. "Viele sitzen dann hier und sagen: ,Bei uns ist es anders' oder: ,Das gibt es bei uns nicht'." Ob vorehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität oder sexueller Missbrauch: In den Augen vieler türkischer Jugendlicher dürfen diese Realitäten das ihnen anerzogene tradierte Ordnungssystem nicht stören. Besonders von türkischstämmigen Jungen höre sie oft dieselbe Frage: "Weiß eigentlich Ihr Mann, was Sie hier für einen Job machen?" Aktas sieht ihre Aufgabe darin, junge Türkinnen und Türken zu ermutigen, Traditionen zu hinterfragen und eigenen Erfahrungen Raum zu geben. Sie selbst klärte sich einst heimlich in der Bravo auf.

Über 430.000 Ratsuchende besuchten im vergangenen Jahr Einrichtungen von Pro Familia oder nahmen an ihren sexualpädagogischen Programmen teil. Davon waren 70 Prozent Frauen und Mädchen, 30 Prozent Männer und Jungen. Der Anteil von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft betrug 15 Prozent. Eigentlich kein schlechter Wert, doch er täuscht. "Die meisten Frauen mit Migrationshintergrund kommen nur wegen der Pflichtberatung zum Schwangerschaftsabbruch zu uns", erläutert Anna Imhoff-Köprülü von Pro Familia in Köln. Oder um einen Antrag auf Hilfe zur ersten Babyausstattung zu stellen. Vorsorgliche und psychosoziale Angebote würden hingegen so gut wie gar nicht Anspruch genommen.


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