Oskar Nolze ist der einzige noch Verbliebene der ersten Kölner Ratspolitiker nach dem Krieg. Unter anderen Umständen würde die Stadt mächtig stolz auf ihn sein. Wäre er nicht ausgerechnet Kommunist.
Er
lebte schon fast wieder ein Jahr in Köln, da wurde erst der
Haftbefehl aufgehoben? "Ja, so war das." Der alte Mann
lächelt. Und holt einen alten Aktenordner aus dem Wohnzimmerschrank.
Alles ist gut sortiert. Zielsicher zieht er ein Blatt heraus "Der
Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes" prangt auf dem
Briefkopf. "Hier sehen Sie es schwarz auf weiß."
Tatsächlich: Mit Beschluss vom 19. Juni 1970, so steht es auf dem
vergilbten Papier, ist der 1953 erlassene Haftbefehl gegen Oskar Nolze
aufgehoben worden. Das Verfahren "wegen Vorbereitung zum
Hochverrat u.a." wurde eingestellt.
Oskar Nolze? Unter
anderen Umständen würden nicht wenige Kölner seinen Namen kennen.
Denn er ist etwas besonderes: Der letzte Überlebende der ersten
Generation Kölner Ratspolitiker, die nach dem Zweiten Weltkrieg
darangingen, aus einem zerbombten Trümmerhaufen wieder eine
lebenswerte Stadt zu machen. Konrad Adenauer, Theo Burauen oder Peter
Josef "Peco" Bouwens - Nolze hat sie alle überlebt.
Zumindest ein großer
Empfang im Rathaus zu Nolzes 95. Geburtstag Mitte September wäre da
schon eine Selbstverständlichkeit. Aber davon will Kölns
CDU-Oberbürgermeister Fritz Schramma bislang nichts wissen. Denn der
rüstige Oldie hat leider einen kleinen "Schönheitsfehler":
Ausgerechnet ein Kommunist ist der Letzte der Ersten.
Sechs Jahre lang, von
1946 bis 1952, saß Oskar Nolze für die KPD im Kölner Rat. Die Zeit
des Wiederaufbaus: "Was meinen Sie, was wir mit den CDU-lern
geackert haben!", erinnert sich der 94-Jährige. "Wenn es
nach denen gegangen wäre, hätten sie in Köln nur Kirchen
gebaut!" Da habe es "ernste Diskussionen" gegeben.
Beispielsweise in der
Stadtratssitzung vom 10. März 1949. "Mögen Sie Ihre Kirchen
erhalten", gab Nolze da den Christdemokraten kontra, "aber
die Planung einer gesamten Stadt, die nahezu zerstört ist, auf die
Reste der Kirchen aufzubauen, das ist nach unserem Dafürhalten
unmöglich." Schließlich müsse Köln "nach
fortschrittlichen, vor allem nach verkehrstechnischen
Gesichtspunkten" aufgebaut werden.
Es ist die Zeit der
großen Not - und der großen Hoffnung. "Wir wissen, dass der Tag
kommen wird, an dem die Arbeiterklasse sich wiedergefunden hat und
geschlossen gegen den Krieg, gegen die deutschen Monopolkapitalisten
auftreten wird", schmettert Nolze am 19. Juli 1951 seinen
Ratskollegen entgegen.
Doch revolutionäre
Anflüge bleiben die Ausnahme, wie ein Blick in die Ratsprotokolle
zeigt. In der Regel geht es um Alltägliches. "Unsere Arbeit im
Rat war ja eine ganz andere als heute", erzählt Nolze, "wir
mussten uns vor allem um die ganz konkreten Probleme der Menschen
kümmern". Zum Beispiel um den Erhalt des Neptunbads: Für das
kämpft Nolze über Jahre verbissen. Immer wieder richtet der
KPD-Ratsfraktionschef und Vorsitzende des Kölner Sportausschusses
flammende Appelle an die Stadt, die drohende Schließung des
Schwimmbads zu verhindern.
Zum guten Schluss hat
der ehemalige Leistungsschwimmer sogar die Christdemokraten
überzeugt, der Bereitstellung finanzieller Mittel für die notwendige
Renovierung zuzustimmen. "Denn die Erhaltung des Ehrenfelder
Bades, ein Stück Kölner Geschichte, können wir nicht nur den
Kommunisten überlassen", begründet dies ein CDU-Abgeordneter.
Auch noch Nolzes letzte
Rede im Rat am 31. Juli 1952 dreht sich ums Schwimmen: Er erklärt,
warum die fünfköpfige kommunistische Fraktion für einen Antrag der
CDU stimmen wird. "Weil wir der Kölner Bevölkerung Freibäder,
Schwimmbäder und Hallenbäder zur Verfügung stellen müssen",
so der frühere deutsche Knabenschwimmmeister.
Peco Bouwens,
inzwischen zum ersten Nachkriegspräsidenten des Deutschen
Fußballbundes aufgestiegen und jeglicher linker Ideen unverdächtig,
bescheinigt Nolze 1953 in einem Leumundszeugnis: Er habe ihn
"unmittelbar nach dem Zusammenbruch 1945" im
Stadtverordnetenkollegium von Köln als jemanden kennen gelernt, der
sich "ohne parteipolitische Sonderinteressen zu vertreten,
ausschließlich für die Behebung der großen Not, in der sich die
Bevölkerung der meist zerstörten Stadt befand, eingesetzt"
hätte.
Da ist die KPD schon
ein Jahr lang nicht mehr im Kölner Rat. Nolze ist inzwischen
hauptamtlicher KP-Funktionär - und Vorsitzender des Kölner
Schwimm-Clubs 06. Zusammen mit dem im Februar diesen Jahres
verstorbenen legendären Silberpfeil-Autorennfahrer Manfred von
Brauchitsch engagiert er sich im Präsidium des "Komitees für
Einheit und Freiheit im deutschen Sport", das sich für
deutsch-deutsche Sportkontakte einsetzt.
Für Adenauers
Bundesregierung ist das Komitee eine von der "Ostzone"
gesteuerte Tarnorganisation. Nolze und von Brauchitsch werden
verhaftet. Zehn Monate lang wird Nolze in die Strafanstalt
München-Stadelheim in Untersuchungshaft gesperrt. Der Kalte Krieg und
McCarthy werfen ihre tiefschwarzen Schatten. In der Bundesrepublik hat
die Zeit der hysterischen Kommunistenjagd begonnen. Sie wird nicht nur
1956 zum Verbot der KPD, sondern auch bis Mitte der 60-er Jahre zu
insgesamt weit über 100.000 Ermittlungsverfahren mit über 3.000
Verurteilungen mit zum Teil langjährigen Haftstrafen führen.
Die Verbitterung über
die damaligen Vorgänge sitzt bei Oskar Nolze bis heute tief. Nein,
nichts ist vergessen, nichts vergeben: "Hitler hat mich nicht
gekriegt, der Dreckskerl Adenauer sperrte mich in den Knast!"
entrüstet er sich. Seine Miene hat sich verdüstert, keine Spur mehr
von dem gutmütigen Lächeln noch eine Minute zuvor. Adenauer,
"der Schweinehund, dem sie heute noch Lorbeeren streuen",
sei ein "Verbrecher" gewesen. Der Vorwurf des
Oberbundesanwalts beim Bundesgerichtshofs gegen von Brauchitsch, Nolze
und zwei weitere Angeklagte: Vorbereitung zum Hochverrat,
Staatsgefährdung und Geheimbündelei.
Am 20. Juni 1955 soll
ihnen der Prozess gemacht werden. Doch da sind sie schon nicht mehr
da. Vor Gericht verliest ihr Anwalt, der DDR-Starjurist Friedrich Karl
Kaul, eine Erklärung der vier, warum sie in die DDR flohen: Da es
darum ginge, "eine Gesinnung zu verurteilen", würden sie
die Rechtmäßigkeit der Anklage nicht anerkennen. Es würde
"keiner Regierung und keiner Justiz möglich sein, durch
Diffamierungen und Gesinnungsurteile die deutsche Verständigung
aufzuhalten".
Die Entscheidung zur
Flucht hatte allerdings nicht Nolze, sondern die KPD-Führung
getroffen. "Du gehst mit dem von Brauchitsch in die DDR",
sei ihm mitgeteilt worden, berichtet er. Widerspruch kam ihm
selbstverständlich nicht in den Sinn: "Das war ja damals eine
Kaderpartei, da ging es nicht so demokratisch zu wie heute."
Warum auch? Die Partei hat immer recht - davon war auch Nolze lange
Zeit fest überzeugt. Schließlich verstanden er und seine Genossen
sich als treue "Marxisten-Leninisten".
Fünfzehn Jahre dauert
sein Asyl in der DDR. An seiner Seite: seine Frau Wilma, auch sie
KPD-Mitglied. Erst wenige Monate vor der Flucht hatten sie geheiratet.
Ihr Sohn kommt 1956 in Ostberlin zur Welt. Seiner Schwimmleidenschaft
bleibt Nolze auch hier treu: als Vizechef des Schwimmverbandes der
DDR.
Doch auch wenn er heute
im Rückblick von "den schönsten Jahren meines Lebens"
schwärmt: Heimisch wird er im selbsternannten Arbeiter- und
Bauernstaat nicht. Er sehnt sich zurück nach Köln. Mitte Januar 1969
- ein halbes Jahr, nachdem der Bundestag eine Amnestie für bis dahin
begangene politische Straftaten im Zusammenhang mit der
Kommunistenverfolgung erlassen hatte - wagt sich Nolze das erste Mal
wieder auf bundesdeutschen Boden. Im Kölner Rathaus wird der
mittlerweile 60-Jährige von zwei alten Freunden empfangen: dem
inzwischen zum Oberbürgermeister aufgestiegenen Sozialdemokraten Theo
Burauen und dem SPD-Ratsherrn Hans Grün. "Oskar, komm' nach
Hause!" hätten die beiden zu ihm gesagt. Und: "Wir helfen
dir!"
Oskar kam zurück. Die
SPD besorgte Nolze eine neue Wohnung in Ehrenfeld und seiner Frau eine
Arbeit bei der Sparkasse. Seine Freunde hätten ihn gewarnt,
Versprechungen von Sozis zu trauen. "Aber", so erzählt er
sichtlich gerührt, "die SPD hat Wort gehalten!" Mitglied
wird er allerdings in der 1968 gegründeten DKP, der inoffiziellen
Nachfolgerin der illegalisierten KPD. Etwas anderes sei "für
einen Kommunisten nicht in Frage" gekommen.
Inzwischen leben Oskar
und Wilma Nolze nicht mehr in Köln. Nein, diesmal mussten sie nicht
fliehen: Im Alter wollten sie in der Nähe ihres Sohnes und dessen
Frau leben. So zogen die beiden ins bergische Umland: nach Kürten in
eine kleine, schlicht eingerichtete Mehrfamilienhauswohnung. Die
78-jährige Wilma ist immer noch in der DKP. Oskar hingegen ist vor
einem Jahr ausgetreten. Die Partei sei ihm "zu
sektiererisch" geworden. Nun ist er Mitglied der Kölner PDS.
"Organisiert muss man sein", sagt er. Zur diesjährigen
Hauptversammlung habe er allerdings leider nicht kommen können, da es
ihm zu der Zeit gerade sehr schlecht gegangen sei. Sogar ans Sterben
habe er gedacht. "Aber die letzten zwei, drei Wochen geht es mir
wieder richtig gut." Die Lebenslust ist wieder da.
Wilma Nolze schenkt
noch einmal die selbstgemachte Ananas-Bowle nach. "Was, schon so
spät?", entfährt es ihr erschrocken. Ihr Mann sitzt immer noch
putzmunter in seinem Sessel. Dabei ist es bereits nach Mitternacht.
Fast fünf Stunden lang hat Oskar Nolze, der vor zwei Jahren einen
Schlaganfall erlitt, aus seinem Leben erzählt. Ginge es nach ihm, er
würde noch stundenlang weiter erzählen.
Aber die Zeit zum
Aufbruch ist gekommen. Oskar Nolze fragt noch schnell, ob man denn
auch die letzten beiden Bücher seines Namensvetters Oskar Lafontaine
gelesen habe? "Die sind absolut hervorragend, die müssen Sie
gelesen haben", fordert er mit entschlossener Stimme.
Und noch etwas bewegt
ihn: "Haben Sie gestern das Spiel des FC gesehen?" Wilma
schmunzelt: "Fan war er ja schon immer, aber jetzt ist er doch
tatsächlich auch noch Mitglied beim 1. FC Köln geworden." Er
habe halt "Farbe bekennen" wollen, sagt Oskar zum Abschied.
Da ist er sich bis heute treu geblieben.
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NACHTRAG: Am 12.
Februar 2004 hat Oberbürgermeister Fritz Schramma doch noch Oskar
Nolze mit einem kleinen Empfang im Rathaus geehrt. Mit sichtbarer
Freude trug sich einstige KPD-Ratsherr ins Goldene Buch der Stadt Köln
ein. Am 1. Januar 2008 starb Oskar Nolze im Alter von 99 Jahren. In
einem Kondolenzschreiben an seine Witwe würdigte der Christdemokrat
Schramma das Wirken des aufrechten Linken: „Oskar Nolze hat sich in
einer für unsere Stadt sehr schwierigen Zeit für das Wohl der
Kölnerinnen und Kölner eingesetzt.“
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