Nach
dreijähriger Verhandlungsdauer endete in anatolischen
Afyon der Göktepe-Prozeß mit einem Schuldspruch für
die angeklagten Polizisten.
Siebeneinhalb Jahre. Seyid Battal
Köse kann es nicht fassen. Bis zuletzt hatte er fest mit
seinem Freispruch gerechnet. Er hat sich geirrt: Köse
muß ins Gefängnis. Schockiert ruft er: "In diesem
Land werden nicht nur die Schuldigen, sondern auch die
Unschuldigen bestraft." Doch Seyid Battal Köse ist
kein Unschuldiger. Er war der unmittelbare Vorgesetzte
der Polizisten, die am 8. Januar 1996 den 27jährigen
Journalisten Metin Göktepe zu Tode prügelten. Er hätte
die Tat verhindern können. Aber er tat es nicht.
Am Donnerstag vergangener
Woche verkündete die Große Strafkammer im
zentralanatolischen Afyon ihr Urteil im Göktepe-Prozeß.
Es verurteilte die Polizisten Suayip Mutluer, Saffet
Hizarci, Fedai Korkmaz, Metin Küsat und Murat Polat
wegen "fahrlässiger Tötung" zu siebeneinhalb
Jahren Haft. Daß sie im Dienst gehandelt hatten, wertete
das Gericht als straferschwerend; als strafmindernd sah
es hingegen an, daß nicht eindeutig habe geklärt werden
können, wer Göktepe den tödlichen Schlag versetzt hat.
Ihr Vorgesetzter Köse wurde wegen Beihilfe ebenfalls zu
siebeneinhalb Jahren verurteilt.
Allerdings wird die reale
Haftzeit aller Verurteilten wohl nicht mehr als drei
Jahre betragen. Dann können sie bei "guter
Führung" nach türkischem Recht auf Bewährung
entlassen werden. Fünf weitere angeklagte Polizisten
wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Damit bestätigte das
Gericht weitgehend sein Urteil vom 19. März 1998. Dieses
war vom Kassationshof in Ankara wegen einer Reihe von
Formfehlern und dem nicht begründeten Freispruch von
Murat Polat aufgehoben und zur erneuten Verhandlung
zurückverwiesen worden. Nun sind sowohl die
Verfahrensfehler als auch der Freispruch Polats
korrigiert worden.
Das jetzt gefällte Urteil
des Afyoner Gerichts muß zwar noch vom Kassationshof
bestätigt werden; Prozeßbeobachter gehen jedoch davon
aus, daß es diesmal Bestand haben wird. Auch den
angekündigten Berufungsanträgen von Nebenklage und
Verteidigung werden nur äußerst geringe Erfolgschancen
eingeräumt.
Damit scheint nach
insgesamt über dreijähriger Verhandlungszeit ein
Prozeß an sein Ende gelangt zu sein, der wie kaum ein
anderer über lange Zeit die türkische Öffentlichkeit
bewegt hat. Und er endete mit einem in der Türkei
sensationellen Ergebnis: Ein türkisches Gericht hält es
für erwiesen, daß türkische Polizisten einen
Journalisten umgebracht haben.
Daß es zu diesem
einmaligen Urteil gekommen ist, verdankt sich dem enormen
öffentlichen Druck. Der hatte sogar Staatspräsident
Süleyman Demirel zu der Feststellung veranlaßt, der
Göktepe-Prozeß habe sich zu einem "Problem
entwickelt, das gelöst werden muß". Die
"türkische Ehre" stünde hier auf dem Spiel.
Allerdings wurde von
Anfang an tunlichst darauf geachtet, die Tat als eine
"Entgleisung" einzelner darzustellen. Die
verurteilten Polizisten sind dementsprechend auch nur
Bauernopfer. Denn das Urteil, so kritisiert
Nebenklage-Anwalt Kamil Tekin Sürek, "verschweigt
konsequent die Mitverantwortlichkeit des Polizeiapparates
bis in seine Spitze hinauf".
Die Verhandlung am
Donnerstag hatte mit zwanzigminütiger Verspätung und
erstmals ohne die Mutter des ermordeten Journalisten,
Fadime Göktepe, begonnen. Denn vor Prozeßbeginn war es
zu Tumulten zwischen den rund tausend aus der gesamten
Türkei in Bussen angereisten Demonstranten und der
Polizei gekommen.
Die Ordnungskräfte
wollten einen Demonstrationszug durch die Afyoner
Innenstadt zum Gerichtsgebäude verhindern und gingen mit
Schlagstockeinsatz gegen die friedlichen Demonstranten
vor. Dabei kam es zu etlichen Verletzten. Mehrere
Demonstranten mußten mit Platzwunden am Kopf behandelt
werden. Fadime Göktepe brach des Polizeieinsatzes in der
Menge zusammen. Sie hatte einen Schwächeanfall erlitten,
war minutenlang bewußtlos und mußte notärztlich
versorgt werden.
Eine Rechtsanwältin, die
zu den Nebenklagevertretern der Familie Göktepe
gehörte, betrat anschließend den Gerichtssaal mit einem
dick geschwollenen blauen Auge. Treffend überschrieb
denn auch die Tageszeitung Milliyet am nächsten Tag
ihren Bericht über den Ausgang des Göktepe-Prozesses:
"Es fing mit Schlägen an und endete mit
Schlägen."
Die Polizei drängte die
Demonstranten zurück in ihre Busse und leitete sie dann
auf einen an eine Militärkaserne angrenzenden Parkplatz
in der Nähe des Gerichts. Dort mußten die Angereisten
bis zu ihrer Abreise nach Verhandlungsende ausharren.
Von den Angeklagten waren
nur Köse und Polat zur Urteilsverkündung erschienen.
Polat blieb auch nichts anderes übrig: Er war der
einzige der Angeklagten gewesen, der noch in
Untersuchungshaft saß. Alle anderen waren im Dezember
letzten Jahres entlassen worden. Auch Polat konnte den
Gerichtssaal am Donnerstag als - vorläufig - freier Mann
verlassen. Seine Haft wurde bis zur Bestätigung des
Urteils durch das Kassationsgericht aufgehoben.
Während Köse anwaltlich
vertreten wurde, fehlten die Anwälte der anderen
Angeklagten. Sie ließen sich entschuldigen und hofften
so, eine Vertagung zu erreichen - ihr letzter,
vergeblicher Versuch der Prozeßverzögerung. Im Januar
hatte sich einer der Verteidiger, Ahmet Ülger, noch
gegenüber Jungle World siegessicher gegeben. "Alles
andere als ein Freispruch wäre nicht
gesetzeskonform", erklärte er damals vollmundig.
Nein, den Prozeßausgang
gegen die Mörder ihres Sohnes will Fadime Göktepe nicht
in einem Notarztwagen verpassen. Schwach auf den Beinen,
gestützt von Angehörigen, betritt die 65jährige mitten
in der Urteilsverkündung doch noch den Gerichtssaal.
Unzählige Kameras richten sich auf die alte Frau, die
eine Symbolfigur für Zivilcourage in der Türkei
geworden ist. Der Richter ignoriert ihr Erscheinen, liest
unbeeindruckt weiter seinen Urteilsspruch vor. Dann
schließt er die Verhandlung.
Fadime Göktepe ist
sichtlich erregt. "Ihr Hunde", schreit sie in
den Saal. "Ihr habt meinen Sohn umgebracht, jetzt
wollt ihr mich auch noch umbringen." Doch der
Richter bleibt gelassen. Der Polizeieinsatz interessiert
ihn nicht. Er schaut die aufgebrachte Frau nur kurz an,
dann verläßt er den Raum. Für ihn ist der Fall
erledigt.
Für Fadime Göktepe
nicht. Als sie den Gerichtssaal verläßt, ruft sie den
versammelten Reportern entgegen, daß sie weiter für
eine demokratische Türkei kämpfen werde.
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