Ein Mann, ein
Wort: Die Susurluk-Affäre müsse restlos aufgeklärt
werden. Er werde so lange kämpfen, bis alle Schuldigen
bestraft seien, auch wenn ihn dies seine politische
Karriere koste, versprach im November letzten Jahres der
damalige Oppositionsführer in der Türkei, Mesut Yilmaz.
Inzwischen ist Yilmaz Ministerpräsident. Mitte September
wurden die Nachforschungen in der Susurluk-Affäre
beendet. Die Ermittlungen über Verbindungen zwischen
Staat, paramilitärischen Killerkomandos und Drogenmafia
sind eingestellt. Schuldige wurden nicht bestraft. Auch
in einem anderen Fall, der ebenfalls ein Schlaglicht auf
die rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei wirft,
wird eine Verurteilung der Schuldigen immer
unwahrscheinlicher: Der Prozeß gegen elf des Mordes an
dem Journalisten-Metin Göktepe angeklagten Polizisten
dümpelt seit über einem Jahr vor sich hin. Die
Hoffnung, daß nach dem Amtsantritt der Regierung
Yilmaz/Ecevit Bewegung in den Prozeß kommen würde,
haben sich inzwischen wieder zerschlagen. Nach dem
letzten Verhandlungstag im September sprach Jungle World
mit dem Abgeordneten Sabri Ergül, der den
Göktepe-Prozeß beobachtet. Ergül ist Mitglied der
sozialdemokratischen "Republikanischen
Volkspartei" (CHP), die die Regierung Yilmaz/Ecevit
toleriert. Am 9. Oktober wird der Göktepe-Prozeß im
zentralanatolischen Afyon fortgesetzt.
Nach dem letzten
Verhandlungstag haben Sie davon gesprochen, Sie nun davon
ausgingen, daß die Justiz "ihre Aufgabe jetzt
erfüllen" wolle. Hat sich an dieser Einschätzung
nach diesem Prozeßtag etwas geändert?
Sabri Ergül:
Man
kann kein abschließendes Urteil abgeben. Sie wissen,
daß sich seit dem letzten Verhandlungstag die
Gerichtskommission wieder geändert hat. Vier Haftbefehle
hat das Gericht unter Richter Kamil Serif aufgehoben,
aber es hat nicht alle Angeklagten freigelassen. Bei den
Freigelassenen handelt es sich um diejenigen, gegen die
erst am vorletzten Verhandlungstag die Vertretung Serifs,
Fatma Nigun Ucar, Haftbefehle erlassen hat. Serif hat
dort weitergemacht, wo er vor seiner zweimonatigen Pause
aufgehört hatte. Trotz allem bin ich nicht hoffnungslos.
Sehen Sie
keinen Rückschritt gegenüber den letzten beiden
Prozeßtagen?
Sabri Ergül:
Natürlich,
wir können beim jetzigen Prozeßverlauf nicht von einer
positiven Entwicklung ausgehen. Das Gericht hat eine
andere Haltung eingenommen als im Juli und August. Der
heutige Verhandlungstag war ein großer Rückschlag für
die Wahrheitsfindung.
Wie erklären
Sie sich das? Liegt das nur an der Rückkehr Kamil Serifs
oder auch daran, daß der Erwartungsdruck, dem sich die
Regierung Yilmaz/Ecevit nach Amtsantritt ausgesetzt sah,
abgenommen hat?
Sabri Ergül:
Daß
der Prozeß überhaupt so weit gekommen ist, hängt eng
mit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zusammen. Auch
internationale Vereinigungen und Institutionen haben dazu
beigetragen. Doch von den Richtern und dem Staatsanwalt
können wir nicht erwarten, daß sie eine Heldenpose
einnehmen. Wenn hinter den Richtern und Staatsanwälten
nicht die Autorität des Parlaments und die
Unterstützung der Öffentlichkeit steht, dann können
sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Das ist das Problem zur
Zeit. Im Susurluk-Fall gibt es einen ähnlichen Verlauf.
In einem Fall, der vom Parlament nicht durchleuchtet
werden kann, ist nicht zu erwarten, daß er von drei
Richtern und einem Staatsanwalt, die im Grunde genommen
keine ausreichende persönliche Sicherheit besitzen,
gelöst wird. Sie können in ihrem Tätigkeitsfeld nur
bis zu einem bestimmten Punkt selbstständig handeln. In
der Türkei ist es so, daß bei der Bekämpfung von
Menschenrechtsverletzungen der politische Willensträger
einen zentralen Entscheidungsfaktor darstellt. Es ist
zugleich von Bedeutung, daß die öffentliche
Aufmerksamkeit gestärkt wird. Beim Göktepe-Prozeß kann
man von einem sehr großen öffentlichen Druck sprechen.
Bei der Susurluk-Affäre gab es keine so breite
Öffentlichkeit. Aber immerhin hat die türkische
Bevölkerung nach einer längeren Unterdrückungsphase
ihr Schweigen gebrochen. Das war ein wichtiger Schritt.
Obwohl in der Türkei das Gericht nicht unabhängig ist,
die Richter keine persönliche Sicherheit besitzen und
der politische Einfluß von staatlichen Geheimkräften
sehr stark ist, versucht die Gerichtsbarkeit ihren
Aufgaben halbwegs nachzugehen.
Sie sehen die
Verantwortung vor allem auf der politischen Ebene?
Sabri Ergül:
Wenn
wir die aktuellen Entwicklungen im Susurluk-Fall mit
einbeziehen, ist es wichtig festzustellen, daß neben der
Gerichtsbarkeit auch das Parlament solchen Vorfällen
nachgehen muß. Dies wird beispielsweise in der
Susurluk-Affäre nicht allein durch die Aufhebung der
Immunität von einigen Abgeordneten möglich sein. Es ist
zudem erforderlich, daß die parlamentarische
Untersuchungskommission den Vorfall bis zum Ende
aufklärt. Das Parlament sowie die Regierung zeigen aber
daran kein besonderes Interesse. Gerade an diesen beiden
Fällen - Susurluk und Göktepe - erkennen wir, daß die
Richter und Staatsanwälte vom institutionellen Druck
beeinträchtigt werden. Sie leben ja nicht auf dem Mond.
Daher setze ich mich in der Türkei dafür ein, daß die
Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit weiter verstärkt,
und daß das Parlament und die Regierung einen
gemeinsamen Aufklärungswillen repräsentieren. Mit dem
Regierungswechsel wurden nicht alle Probleme beseitigt.
Auch die neue Regierung zeigt nicht den notwendigen
politischen Entscheidungs- und Aufklärungswillen. Das
muß sich ändern.
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