09.10.1997



Interview mit Sabri Ergül

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Jungle World

*   Was ist los mit der türkischen Justiz?
Von Pascal Beucker

Ein Mann, ein Wort: Die Susurluk-Affäre müsse restlos aufgeklärt werden. Er werde so lange kämpfen, bis alle Schuldigen bestraft seien, auch wenn ihn dies seine politische Karriere koste, versprach im November letzten Jahres der damalige Oppositionsführer in der Türkei, Mesut Yilmaz. Inzwischen ist Yilmaz Ministerpräsident. Mitte September wurden die Nachforschungen in der Susurluk-Affäre beendet. Die Ermittlungen über Verbindungen zwischen Staat, paramilitärischen Killerkomandos und Drogenmafia sind eingestellt. Schuldige wurden nicht bestraft. Auch in einem anderen Fall, der ebenfalls ein Schlaglicht auf die rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei wirft, wird eine Verurteilung der Schuldigen immer unwahrscheinlicher: Der Prozeß gegen elf des Mordes an dem Journalisten-Metin Göktepe angeklagten Polizisten dümpelt seit über einem Jahr vor sich hin. Die Hoffnung, daß nach dem Amtsantritt der Regierung Yilmaz/Ecevit Bewegung in den Prozeß kommen würde, haben sich inzwischen wieder zerschlagen. Nach dem letzten Verhandlungstag im September sprach Jungle World mit dem Abgeordneten Sabri Ergül, der den Göktepe-Prozeß beobachtet. Ergül ist Mitglied der sozialdemokratischen "Republikanischen Volkspartei" (CHP), die die Regierung Yilmaz/Ecevit toleriert. Am 9. Oktober wird der Göktepe-Prozeß im zentralanatolischen Afyon fortgesetzt.

Sabri ErgülNach dem letzten Verhandlungstag haben Sie davon gesprochen, Sie nun davon ausgingen, daß die Justiz "ihre Aufgabe jetzt erfüllen" wolle. Hat sich an dieser Einschätzung nach diesem Prozeßtag etwas geändert?

Sabri Ergül: Man kann kein abschließendes Urteil abgeben. Sie wissen, daß sich seit dem letzten Verhandlungstag die Gerichtskommission wieder geändert hat. Vier Haftbefehle hat das Gericht unter Richter Kamil Serif aufgehoben, aber es hat nicht alle Angeklagten freigelassen. Bei den Freigelassenen handelt es sich um diejenigen, gegen die erst am vorletzten Verhandlungstag die Vertretung Serifs, Fatma Nigun Ucar, Haftbefehle erlassen hat. Serif hat dort weitergemacht, wo er vor seiner zweimonatigen Pause aufgehört hatte. Trotz allem bin ich nicht hoffnungslos.

Sehen Sie keinen Rückschritt gegenüber den letzten beiden Prozeßtagen?

Sabri Ergül: Natürlich, wir können beim jetzigen Prozeßverlauf nicht von einer positiven Entwicklung ausgehen. Das Gericht hat eine andere Haltung eingenommen als im Juli und August. Der heutige Verhandlungstag war ein großer Rückschlag für die Wahrheitsfindung.

Wie erklären Sie sich das? Liegt das nur an der Rückkehr Kamil Serifs oder auch daran, daß der Erwartungsdruck, dem sich die Regierung Yilmaz/Ecevit nach Amtsantritt ausgesetzt sah, abgenommen hat?

Sabri Ergül: Daß der Prozeß überhaupt so weit gekommen ist, hängt eng mit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zusammen. Auch internationale Vereinigungen und Institutionen haben dazu beigetragen. Doch von den Richtern und dem Staatsanwalt können wir nicht erwarten, daß sie eine Heldenpose einnehmen. Wenn hinter den Richtern und Staatsanwälten nicht die Autorität des Parlaments und die Unterstützung der Öffentlichkeit steht, dann können sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Das ist das Problem zur Zeit. Im Susurluk-Fall gibt es einen ähnlichen Verlauf. In einem Fall, der vom Parlament nicht durchleuchtet werden kann, ist nicht zu erwarten, daß er von drei Richtern und einem Staatsanwalt, die im Grunde genommen keine ausreichende persönliche Sicherheit besitzen, gelöst wird. Sie können in ihrem Tätigkeitsfeld nur bis zu einem bestimmten Punkt selbstständig handeln. In der Türkei ist es so, daß bei der Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen der politische Willensträger einen zentralen Entscheidungsfaktor darstellt. Es ist zugleich von Bedeutung, daß die öffentliche Aufmerksamkeit gestärkt wird. Beim Göktepe-Prozeß kann man von einem sehr großen öffentlichen Druck sprechen. Bei der Susurluk-Affäre gab es keine so breite Öffentlichkeit. Aber immerhin hat die türkische Bevölkerung nach einer längeren Unterdrückungsphase ihr Schweigen gebrochen. Das war ein wichtiger Schritt. Obwohl in der Türkei das Gericht nicht unabhängig ist, die Richter keine persönliche Sicherheit besitzen und der politische Einfluß von staatlichen Geheimkräften sehr stark ist, versucht die Gerichtsbarkeit ihren Aufgaben halbwegs nachzugehen.

Sie sehen die Verantwortung vor allem auf der politischen Ebene?

Sabri Ergül: Wenn wir die aktuellen Entwicklungen im Susurluk-Fall mit einbeziehen, ist es wichtig festzustellen, daß neben der Gerichtsbarkeit auch das Parlament solchen Vorfällen nachgehen muß. Dies wird beispielsweise in der Susurluk-Affäre nicht allein durch die Aufhebung der Immunität von einigen Abgeordneten möglich sein. Es ist zudem erforderlich, daß die parlamentarische Untersuchungskommission den Vorfall bis zum Ende aufklärt. Das Parlament sowie die Regierung zeigen aber daran kein besonderes Interesse. Gerade an diesen beiden Fällen - Susurluk und Göktepe - erkennen wir, daß die Richter und Staatsanwälte vom institutionellen Druck beeinträchtigt werden. Sie leben ja nicht auf dem Mond. Daher setze ich mich in der Türkei dafür ein, daß die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit weiter verstärkt, und daß das Parlament und die Regierung einen gemeinsamen Aufklärungswillen repräsentieren. Mit dem Regierungswechsel wurden nicht alle Probleme beseitigt. Auch die neue Regierung zeigt nicht den notwendigen politischen Entscheidungs- und Aufklärungswillen. Das muß sich ändern.


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